Corona-Chaos und Frühlingsgefühle

Photo by Sophie Rudolph

Photo by Sophie Rudolph

Anfang März 2020 hatte ich im Rahmen einer Ausbildung in systemischem Coaching in Zürich die Aufgabe von einem kurzen Spaziergang einen Gegenstand oder ein Foto mitzubringen, das mein Menschenbild repräsentiert. Ich sah die bunten Stühle vor dem Gebäude, der ganze Schauplatz wirkte wie eine verlassene Bühne, eine Welt sozialer Inszenierung, die immer wieder aufs Neue stattfindet und sich wieder auflöst, die Akteure wechseln und doch meinen wir, die Regeln zu kennen. Auch wenn wir uns bereits Anfang März bei jeder Gelegenheit schön brav die Hände desinfizieren mussten, dass es so schnell kippen würde, haben die meisten sich wohl eher nicht träumen lassen - ich jedenfalls nicht. Aber nun habe ich zufällig ein Bild, das zu diesem merk-würdigen Frühlingsbeginn besser passt, als ich geahnt habe.

Ich möchte hier in den nächsten Wochen ein kleines Resümee dieser Zeit versuchen, ein ganz subjektiver Standpunkt, meine Sichtweise und mein Erleben dieser Tage. Ich weiss noch nicht, wo es hinführt, das wird sich zeigen.

Verwirrung

Niemand weiss mehr so genau, was man nun von der ganzen Sache halten soll. Es herrscht eine sehr anstrengende soziale Dynamik zwischen Panikmache und Bagatellisieren. Das Corona-Virus löst Chaos aus. Es kursieren Verschwörungstheorien, spirituelle Theorien, alle möglichen anthropologischen Theorien. Ich habe keine Theorie. Nur Akeptanz für das, was ist. Ich würde eigentlich gerne mal wieder über was anderes reden. Das ist aber im Moment echt schwierig.

Fokus

Im Supermarkt fokussieren sich viele auf einige ausverkaufte Produkte. Ich gehe eine Runde durch den ganzen Laden und stelle fest, dass es wenige Sachen sind, die als Mangelware gehandelt werden. Leergeräumt sind die Regale mit Pasta, Tomatensauce, Kartoffelchips, Knäckebrot, Bananen… mein Einkaufswagen ist trotzdem mit leckeren Sachen bunt gefüllt. Ich kann mich darauf konzentrieren oder auf das leere Klopapierregal. Mangel oder Fülle - wofür entscheidest du dich?

Home-Office

Eine komplette Uni innerhalb weniger Tage auf online-Lehre umzustellen ist schon ein ziemlicher Akt. Aber auch ein Beweis dafür, dass vieles möglich ist, wenn es sein muss. Auf allen Kanälen werden Dinge ausprobiert. Es geht drunter und drüber, ich weiss nicht, wo Stillstand herrscht, bei mir im Home-Office jedenfalls nicht. Während einer Zoom-Konferenz wird die Kollegin dann noch abgelenkt, weil ihre Nachbarin gerade mit fünf Packungen Klopapier am Fenster vorbeiläuft. Gegen Ende der Woche haben sich dann alle für ihren bevorzugten virtuellen Hintergrund entschieden. Dank einigermassen funktionierender Technik können wir nun so tun, als wäre das alles irgendwie normal.

Home-Schooling

Alle sind plötzlich Home-Schooler. Ich muss zugeben, dass mein Kind noch nie so viel am Tablet hängen durfte wie an unserem ersten gemeinsamen Home-Office-Schooling-Tag. Es war wunderbares Wetter draussen und es kam der Moment, in dem ich einfach nur noch den Stecker gezogen habe. Muss sein, wirklich. Zum Glück hat das Kind so richtig tolle Hausaufgaben vom Waldkindergarten bekommen. Tischdecken, beim Kochen helfen, Vogelkonzert hören, Feuer machen, ein Schatzkästchen basteln und einen Gegenstand im Wald für das Schatzkästchen suchen. Nichts wie raus, solange wir noch können.

Krisenmanagement

Die Worte, mit denen wir über die Krise sprechen, erinnern an Krieg. Wir befinden uns “im Kampf gegen” SARS-CoV-2, einen unsichtbaren Feind, der auf jeder Türklinke lauert. Wer in einer noch geöffneten Bäckerei arbeitet, steht plötzlich “an der Front”. Ich habe mich in den letzten Tagen öfter gefragt, was meine Grossmutter, die fünf Kinder durch den zweiten Weltkrieg in Deutschland gebracht hat, zum Corona-Chaos gesagt hätte. Jedenfalls gab es da ganz sicher nicht jeden Tag Bananen. Ich kann nur sehen, was von meinem Standpunkt sichtbar ist und aus meiner Perspektive sprechen. Starre, hierarchische Strukturen helfen im Moment in vielen Situationen nicht weiter, es geht um schnelle, pragmatische Lösungen und darin liegt auch ein grosses Potenzial der Veränderung unserer Arbeitsweise. Ich bin jedenfalls gespannt, wie es sich weiterentwickelt. Es ist grosses Vertrauen ineinander gefragt, da vieles ausser Kontrolle geraten ist. Wir sind gefordert, anders miteinander umzugehen und aufeinander zuzugehen. In diesem Sinne ist die Krise immer auch eine Chance.

Einatmen - Ausatmen

Zwischendrin habe ich immer wieder das Gefühl, dass mir die Energie in alle Richtungen wegfliegt. Es ist wichtiger denn je, zu filtern und sehr genau auszuwählen, was man sich anguckt und anhört und bei sich zu bleiben. Das Immunsystem ist auch ein Filter. Wie schützt du dich vor Ansteckung? Nicht nur auf körperlicher, sondern vor allem auch auf mentaler und psychischer Ebene? Mir hilft in diesen Tagen wirklich immer wieder das bewusste Ein- und Ausatmen, innehalten, Fenster auf, die Lungen mit frischer Luft füllen. Die Lungen legen sich wie zwei Flügel um das Herz. Jeder tiefe Atemzug berührt und beschützt das Herz. Dieser Gedanke begleitet und beruhigt mich. Immer wieder. Gerade dann, wenn ich spüre, dass Angst in mir aufsteigt und mir “den Atem raubt”.

Grenzen

Die Grenzen sind geschlossen. Plötzlich kann ich nicht mehr einfach entscheiden, über Ostern meine Eltern zu besuchen, ohne mich beim Auswärtigen Amt über die Ein-und Ausreisebestimmungen zu informieren und mich eventuell gesundheitlichen Kontrollen zu unterziehen. Was als “dringlicher” Grund zur Einreise gilt, liegt im Ermessen der Grenzbeamten. Wie war das? Einatmen - ausatmen. Zuhause bleiben.

Das Gebot des “Social Distancing” geistert durch die Medien und bestimmt nun unseren Alltag. Plötzlich wird hart entschieden, wen wir noch in unsere Nähe lassen, es wird eingegrenzt und ausgegrenzt. Es bleiben sehr wenige Menschen übrig. So offenbart sich jetzt, wer sich wirklich nah steht. Ziemlich krass. Und auf der anderen Seite sind wir trotzdem alle miteinander verbunden und begleiten uns durch diese Zeit.

Alles eine Frage der Perspektive

Die Inder halten uns ja sowieso für unhygienisch, weil wir uns den A… nicht nach jedem Toilettenbesuch mit fliessendem Wasser reinigen. Soviel zum Klopapier. Ich habe trotzdem mal eine Packung auf Vorrat gekauft. Nur so halt, weil gerade noch welches da war. Man muss ja nicht alle Gewohnheiten auf einmal verändern.

Manchmal bin ich dieser Tage wirklich froh, dass ich ein kleines Kind habe. Das grösste Drama der letzten Tage zuhause war nämlich, dass das Waffeleisen kaputt gegangen ist. Stell dir das mal vor! Da hat man sogar schon den Teig gemacht und dann sowas. Wir haben dann Kaiserschmarrn aus dem Teig gemacht. Und einen Moment lang war alles so wie immer. Ohne das ganze Gedanken-Chaos herrscht Frieden, mein Sohn hüpft im Garten herum, pflückt mir einen Blumenstrauss und fragt mich: “Kann man sich eigentlich auch einen Beruf ausdenken?” Na klar, sag ich, was würdest du denn gerne machen? “Also ich habe mir überlegt, ich kann besonders gut geniessen. Also könnte ich Geniess-Lehrer werden und den Leuten beibringen, wie man das Leben geniesst.” Das finde ich eine sehr gute Idee!

Wie erlebst du diese Tage? Geht es dir ähnlich? Ganz anders? Siehst du was, was ich nicht sehe? Ich freue mich über deinen Kommentar oder eine persönliche Nachricht.

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Was ich mir für die Zeit nach Corona wünsche

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Warum der erste Schritt oft der schwerste ist